Nächstenliebe

Homo homini lupus

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Dieser Text stellt einige dunkle Biographien vor und mahnt an, dass uns die Zwischen-Menschlichkeit fehlt.

von Christian

„Das Leben ist Scheiße“, das ist jedem klar.
Durch ein paar Beispiele, die entweder wahr
oder frei erfunden sind, dürft ihr jetzt entscheiden,
ob vielleicht auch andre Leute leiden;
Schaut zu, wie sie ihr Leben leben
und wie das Leben sie halt jeden
Tag nur Scheiße fressen lässt.
Der Staat gibt ihnen noch den Rest
der vielleicht grad so zum Leben reicht.
Da denkt man sich doch: Naja, vielleicht
ist im System irgendwo der Wurm drin:
Jeder sitzt nur in seinem Turm drin
und leidet ein bisschen für sich allein.
Also… schauen wir mal zu, und in ihr Leben hinein.


Ich sehe das Leben der kleinen Sarah,
die schon tot ist, bevor sie überhaupt da war.

Es fing alles auf 'ner Klassenfahrt an,
als zwei Kumpels hier dieses Mädchen sahn
ganz normal, ziemlich hübsch, so mit rotblonden Haaren,
ganz knackig, ziemlich schüchtern,
und noch sehr unerfahren,
nur zwei Klassen tiefer, ist grad vierzehn geworden.
Sie mag Vampire im Volvo und bis zum Morgen-
grauen liest sie gern mal ein Buch!
joa… und in dieser Nacht hatte sie halt Herrenbesuch.

Gepoppt wurde, weil es halt jeder macht.
Ist lustig, voll cool, und was soll man die Nacht
halt noch anderes machen, schlafen macht keinen Spaß.
Na dann lieber Geschlechtsverkehr, zu dritt, und was
daraus dann für Konsequenzen passieren
muss man nicht wissen, kann man ignorieren.

Und sechs Wochen später entschließt „Mama“ mal eben,
Sarah, die Tochter, dieses entstehende Leben
rauszupflücken aus ihr, und sie abzutreiben.
Sarah ist weg, doch die Zweifel die bleiben!

Die einzigen beiden, die überhaupt gar nicht leiden
sind Mamas Macker, denn die haben sich
schon früh aus dem Staub gemacht
und interessieren sich nicht.


Ich sehe das Leben von Opa Franz,
er heißt wie ein Kaiser und ist darauf ganz
ganz fürchterlich stolz, denn es ist eine Ehre.

Franz… und er fragt sich, wie's wäre
hätte er damals anders gehießen.
Vielleicht hätte er dann nicht auf die Polen schießen
müssen, fürs Vaterland, für Hitler, und für etwas zu essen.

Franz… die Zeit ist vorüber, aber vergessen
kann er sie nie.
Wäre er nur etwas jünger gewesen,
dann hätte er noch in der Schule das Lesen
gelernt, statt auf dem Schlachtfeld das Töten.
Im Nachhinein betrachtet schon ziemlich blöd, denn
Schießen braucht heute doch keiner mehr.
Und Franz sitzt im Heim und grübelt, wie’s wär…

… Wäre sein Name zum Beispiel „Rainer“
dann wär sicher alles ganz anders und keiner
hätte dem einst so fröhlichen Jungen
Ehre und Treue und Pflicht aufgezwungen.
Vielleicht hätt er dann eine Frau gehabt
und … noch seine Beine, 'ne Karriere als begabt-
er Profisportler hätt' ihm offen gestanden.
Offen gestanden hat er bis jetzt nicht verstanden
warum ihn alle danach so abstoßend fanden…

Franz… ja, er heißt wie ein Kaiser
und seine Taten waren grausam, ja, das weiß er
auch und es tut ihm ja Leid.
Und so hofft er, dass jemand kommt und verzeiht,
aber es kommt niemand, und er sitzt da allein
und wünscht sich, endlich tot zu sein.


Ich sehe das Leben der jungen Yvonne,
sie ist gerade siebzehn und doch hat sie schon
im Leben mehr ertragen als man je tragen kann:

Es fing alles vor drei Jahren an,
sie weiß noch genau, in der Schule hatte
sie Panik vor Sport und Probleme in Mathe,
alle tuschelten oft, viele mobbten sie und
ihr Körper war manchem ein bisschen zu rund.

Ihre Mama war lieb und sie sagte, „das legt sich“,
und ihr Papa war lieb und er sagte, „ich leg mich
einfach mal nachts zu dir, dass du spürst,
das du wunderschön bist und immer schöner wirst.
Die andern verstehn nichts davon, mein Kind.
Ich hab dich so lieb! und wo wir grad hier sind
was hältst du davon, mich mal kurz zu massieren?“

Huch, Puff, wie konnte das nur passieren?
Papa zeigte seine Zuneigung körperlich.
Mit Liebe und Hingabe, und damit sein Körper nich'
ganz leer ausging wurde ab jetzt jede Nacht
diese Liebesbekundung von ihm aufs Neue gemacht.

In der Schule wurde die arme Yvonne
depressiv, schweigsam und die sowieso schon
schlechten Noten wurden abgrundtief schlecht.
Die Mitschüler tuschelten jetzt erst Recht
über sie und ihren wachsenden Bauch.
Doch niemand half ihr und es fiel niemandem auf.

Und niemand fragt sie, wie's ihr geht.
Könnt ihr verstehen, dass Yvonne
verzweifelt ist und mit ihrem Sohn,
wartend auf den Gleisen steht?


Ich sehe dein Leben und weiß gar nichts davon.
Wie geht es dir, was bedrückt dich, und hast du heut schon
mit irgendjemandem über deine Sorgen gesprochen?
Vielleicht bist du es, der/die schon seit Wochen
seinen/ihren Kummer in sich hinein frisst,
weil niemand Zeit hat und für dich da ist?
Vielleicht hat das Leben
dir gerade eben
die Zukunft, die vorher noch toll war,
das Glas, das vorher noch voll war
in einem einzigen Zug geleert…

… und trotzdem tut ihr, als ob nichts wär.
Denn Gesellschaft ist, neben dem Nächsten zu leben
und ihm bloß nichts zum Tratschen zu geben.
Und in unserem winzigen Schneckenhaus
sind wir zwar einsam, doch wir traun uns nicht raus.

Denn:
Der Mensch ist dem Menschen ein Menschenfresser!
Leute, mal ehrlich: das können wir doch besser!?

(Christian Methfessel, 12.03.2011)

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Kommentare

1) Kommentar von Claudia

Wahnsinn!
(im positiven Sinne gemein, obwohls von einem ziemlich negativen Thema spricht)
glg

von Christian

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